Lüttich - eine bibliophile Frittenfahrt

 

Bei dieser Reise geht es nicht darum, Lüttich, in seiner historischen Bedeutung als erster europäischer Standort der Dampfmaschine und damit als Wiege der kontinentaleuropäischen Kohle- und Stahlindustrie zu erinnern, auch nicht darum, das typische Flair des Sonntagsmarktes am Ufer der Maas zu erleben oder beim wöchentlichen Flohmarkt am Boulevard de la Constitution auf Schnäppchenjagd zu gehen... Natürlich nicht. Es ist eine ganz andere Art der „Jagd“, zu der wir aufbrechen und die Stadt erkunden. Denn Lüttich ist auch die Heimatstadt von Georges Simenon, Schöpfer des weltberühmten Kommissar Maigret und ist voller Plätze, Gassen, Gebäude, die an seinen wohl bekanntesten Sohn erinnern. Und heute, mehr als 100 Jahre nach der Geburt des Schriftstellers, ist es vor allem das Viertel Outremeuse, die Insel zwischen den Maasarmen, in denen vieles, liebevoll restauriert, manches, abseits der touristisch aufbereiteten Orte aber auch mit morbidem Charme, jene Zeit lebendig werden lässt, in denen der junge Simenon hier seine Welt erschloss, die in vielen seiner Romane auch heute noch fortlebt.

 

„All meine Romane sind Phantasmen meiner Kindheit.“, so wird Simenon in der 1993 von Freddy Derwahl verfassten und im Grenzecho Verlag erschienenen, einfühlsamen Biografie „Der kleine Sim“ selbst zitiert und weiter: „Mit siebzig handle, denke und verhalte ich mich wie das Kind von Outremeuse.“

Kein Wunder also, wenn die Stadt, speziell das Viertel sich ihrer Bedeutung bewusst sind und mit diesem Pfund wuchern, indem eine spezielle Führung „Auf den Spuren von Georges Simenon“ als touristisches Highlight für jedermann buchbar angeboten wird. Unter sachkundiger, je nach persönlicher Ausformung des Guide auch leidenschaftlicher Anleitung, lässt sich die Fährte des Schriftstellers entlang der in den Boden eingelassenen Embleme quer durch das Viertel aufnehmen.

 

Schritt für Schritt enthüllt sich während dieses etwa zweistündigen Fußweges der Mensch, aus dessen Feder an die vierhundert Romane geflossen sind, der einen ungeheuren literarischen Erfolg zu verzeichnen hat: 550 Millionen Exemplare in 40 Ländern und in mehr als 50 Sprachen übersetzt. So dürfte Simenon zu den meistgelesenen Autoren überhaupt zählen. Dabei ist seine Ambition nicht gerade als literarisch zu bezeichnen. „Ich versuche alles zu vermeiden, was nach Literatur aussieht. Mein Ziel ist die Einfachheit.“, hat Simenon 1964 in einem Gespräch mit Ian Fleming, dem Urvater von James Bond, einer ebenso berühmten Legende wie Jules Maigret, das Konzept seines Schaffens beschrieben.

Und dennoch, so urteilen die Kritiker, ist das, was der Vielschreiber gewissermaßen am laufenden Band produziert hat, von hoher literarischer Qualität.

 

Kommissar Maigret etwa, der in 75 Bänden immer wieder mit Pfeife und Hut, massig in Gestalt und mit verschlossenem Gesicht antritt, seine Fälle zu lösen, tut dies nicht mit logischem, nüchternem Scharfsinn, sondern mit unbetrügbarem Spürsinn. Er fühlt sich in die finsteren Gestalten ein, entwickelt Intuition, sieht Verhalten voraus und stößt zum Kern des Bösewichtes durch. Nackt, entkleidet aller Verhüllungsmaßnahmen, schält sich das Abgründige, die Angst, die Sehnsüchte, eben das Menschliche aus Simenons Figuren heraus.

 

Und genau dies wird nachvollziehbar als eigene Erfahrung des Autors im Abschreiten der biografischen Orte. Hier zeigt sich, dass die Historie Lüttichs als betriebsamer Industriemagnet für Zuwanderer vor allem aus Italien und Nordafrika - davon zeugt beispielsweise die immer noch lebhafte Geschäftsstraße Rue Puits-en-Sock - auch düstere Seiten hatte, die die Kindheit und Jugend des Schriftstellers geprägt haben: Die schmalen Gassen, die hier abzweigen, die auch heute noch in der Dämmerung etwas Verschlossenes, Bedrohliches haben, durch die der „kleine Sim“ in der Morgendämmerung voller Angst als Ministrant zur Kirche hastete, die Enge des Geburtshauses, die aus Aachen stammende, stets jammernde Mutter Henriette, zu der Simenon Zeit seines Lebens eine schwierige Beziehung hatte. Von ihr geliebt mag er sich nicht gefühlt haben. Es wird berichtet, dass, als sein Bruder als junger Mann gestorben war, sie bedauert haben soll, dass nicht Georges es war, der den Tod gefunden hat. Hart und kontrollierend, so wird sie beschrieben. Man erfährt, dass ihr eigener Vater und zahlreiche ihrer Geschwister dem Suff erlegen waren. Bei so viel Elend entsteht gelegentlich der Wunsch, in das Schicksal einzugreifen und Dinge anders darzustellen, als sie tatsächlich sind. In diesem Wahn sei sie soweit gegangen, das Geburtsdatum von Georges zu fälschen. Da er an einem Freitag, den 13. kurz nach Mitternacht geboren sei, habe sie den Arzt beschwatzt, die Geburtszeit um eine Viertelstunde zurück auf den 12 Febr.1903 zu datieren.

 

Der Vater hingegen, als verständnisvoll und gütig beschrieben, soll in vielem die Züge des weltbekannten Kommissars getragen haben. Seine Herzkrankheit und seine Arbeitslosigkeit, und schließlich sein früher Tod, Armut, eine dreijährige Belagerung der Stadt während des Ersten Weltkrieges, die frühe Rolle als Ernährer der Familie, die Simenon sich selbst auferlegt hatte, Schulabbruch, Abbruch der Lehre als Konditor und Buchhändler, so lässt sich die Biografie des jungen Simenon weiter verfolgen. Eine düstere Jugend, lässt sich vermuten und so wundert es wenig, dass sich, nicht gerade rühmlich, eine ebenso dunkle Seite in Simenons Charakter entwickelt: Als Sechzehnjähriger besucht er bereits täglich die Bordelle in der Stadt, konsumiert Unmengen von Alkohol und trifft sich mit Gleichgesinnten an geheimen Örtlichkeiten, wo man sich vereint in Alkoholexzesse und Ätherrausch stürzt.

 

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien, der als dritter Band der Maigret-Folgen 1931 entstand, greift diese Erlebnisse des jungen Simenon auf und immer noch läuft einem ein Schauder über den Rücken, wenn man das Tor der Kirche am Ende vom Boulevard de la Constitution betrachtet, an dem sich am 2. März 1922 nach einer solchen Nacht der zum Kreis der Apokalyptischen Kumpane gehörende Joseph Jean Kleine erhängt haben soll. Oder wurde der Drogenabhängige ermordet? Geklärt wurde der Fall letztlich nie. Und der Maigret-Band deutet so etwas wie Schuldbewusstsein an. Es scheint ein zäher Sumpf gewesen zu sein, in dem der junge Simenon drohte sich zu verlieren.

 

Doch Simenon geht in diesen Verhältnissen nicht unter. Zeitgleich entwickelt er eine weitere Obsession, das Schreiben. Innerhalb kürzester Zeit bringt er es als zunächst probeweise angestellter Volontär bei der „Gazette de Liége“ zu eigener Kolumne, die er „Aus dem Hühnerstall“ nennt und die er mit „le Coq“ unterschreibt, ein Name, der ebenfalls im o.g. Maigret Band wieder auftaucht. Sein Ressort sind Mord und Verbrechen. Täglich kreuzt er auf der Polizeiwache in der Rue Puits-en-Sock auf, um neueste Informationen über diese Schattenseiten eines städtischen Lebens zu erfahren und um darüber zu berichten.

 

Die Polizeiwache, die Maigret-Buchhandlung, der auf einer Bank zeitlos platzierte Bronze-Simenon, die Pfeife, die als Erkennungsmerkmal sowohl für Maigret als auch für Simenon selbst stehen... überall in Outremeuse ist Simenon gegenwärtig, auch wenn vieles heute herausgeputzt ist, touristentauglich aufpoliert wurde. Selbst die bisher aus dieser Zeit noch erhaltene Kneipe „Baudelaire“, dessen Fleurs du Mal Simenon wohl büschelweise gepflückt haben mag, ist nun geschlossen, steht nun zum Verkauf, zur Restaurierung.

 

Mit 17 Jahren lernt Simenon die drei Jahre ältere Malerin Régine Renchon, die er Tigy nennt, kennen. Mit 18 Jahren heiratet er sie. Er ist ausgebrannt und erhofft sich Rettung durch diese Liaison. Auf allen vieren sei er in die Ehe gekrochen, so berichtet Simenon in seinen Erinnerungen. Auch wenn dies, man ahnt es bereits, natürlich nicht die Rettung sein kann, mit ihrer Unterstützung gelingt es Simenon jedenfalls, Lüttich Adieu zu sagen und in Paris einen Neuanfang zu wagen.

 

Simenon, das ist mehr als eine stattliche Sammlung von Büchern und Filmen, Simenon ist Kult. Soviel ist nach dem zweistündigen Rundgang klar. Und mancher mag inspiriert nach den dünnen Maigret-Bändchen Ausschau halten. Im Oktober diesen Jahres erschienen die letzten drei Bände von insgesamt 75, die der Diogenes Verlag jetzt neu aufgelegt hat. Aber auch die zahlreichen „Non-Maigrets“, der Briefwechsel etwa mit Fellini, dem er einst mit seiner Behauptung, er habe mit mehr als 8000 Frauen geschlafen, die Show gestohlen hat oder der Brief an die Mutter, den er erst nach ihrem Tod geschrieben hat als eines seiner letzten Werke, dies alles bietet eine Fülle an Material, in dem sich die in Lüttich begonnene Spurensuche fortsetzen lässt.

 

Die Ausflügler, die wir hier begleitet haben, lassen soviel Simenon erst einmal sacken - bei einem gepflegten belgischen Bier. Nicht in Lüttich selbst, sondern in klösterlicher Abgeschiedenheit in der nahegelegenen Abtei Val Dieux. Hier lässt sich bei Klosterkäse und „Klosterbräu“ dem abgründig Menschlichen des Ausnahmeautors, den Kritiker wohl auch als Ungeheuer bezeichnen, mit beschaulicher Distanz nachspüren.

©Birgit Bodden