Am Niger

 

Modibo Diarra heißt am liebsten Manu Chao, so wie der echte, der weltbekannte, katalanische Musiker. Er hat ein Foto herausgekramt, auf dem er und Manu Chao zusammen zu sehen sind. Sie stehen auf einer Bühne und machen offensichtlich gemeinsam Musik. Immer wieder fragt er mich: „Dimanche a Bamako, das musst du kennen, Amadou und Mariam und Manu Chao haben diese CD gemeinsam aufgenommen“. Dann singt er einige Takte aus Les Beaux Diamanches, ein Lied, das ich nie gehört habe. „ Radio Bemba“, forscht er weiter. Ich zucke die Schultern. Er ist fassungslos, dass ich diese Musik nicht kenne. Seitdem er Manu Chao als Guide durch Mali geführt hat, nennen ihn seine Freunde so. Überall wo wir aufkreuzen: „Ey Manu Chao, Handschlag, Fäuste aneinander reiben, Lachen, Begrüßungsformeln, überall.

Und seitdem wir gemeinsam unterwegs sind, nenne ich ihn eben auch so.

Mit der über dem Niger untergehenden Sonne treffen wir in Mopti ein. Manu Chao weist auf die großen Nebenarme des Flusses und erklärt, dass es zur Regenzeit hier ganz anders aussieht, dass man dann viele Stellen der Stadt, die jetzt zu Fuß begehbar sind, nur noch mit der Piroge erreichen kann. „Mopti ist das Venedig von Mali.“, doziert er weiter und „Mopti gilt als das Handelszentrum überhaupt in Mali, mehr noch als Bamako. Was immer man erwerben, kaufen, tauschen will, alles gibt es in Mopti.“

Wir kehren ein bei Gismo, der ist ein Freund von Manu und er lebt in einem Haus in der Altstadt von Mopti. Mit seiner Freundin Aischa bewohnt Gismo zwei Zimmer mit Terrasse und Bad auf der ersten Etage, eins davon wollen sie an uns vermieten. Ein Zimmer für fünf Personen, denn Hassan Deux ist schon da, als wir -Manu, Anneke und Mirthe, die beiden Holländerinnen, und ich - hier ankommen und er wohnt auf alle Fälle auch hier.

Hassan Deux, dessen königlicher Namensgeber der Erbauer der weltweit größten Moschee in Casablanca ist, habe ich bereits in Segou kennengelernt. Er ist ein großgewachsener, geschwätziger Mann, der sich auf eine bestimmte Art von allen anderen abhebt. Als seine Königsinsignien trägt er blütenweiße Jeans und ein ebenso weißes Polohemd, die gegen den allgegenwärtigen Staub anscheinend vollkommen immun sind; und ein MP3 Player, den er an einer Schnur um den Hals trägt sowie eine Designer-Sonnenbrille markieren seinen Status.

Außerdem ist noch jemand auf der Terrasse, der Tee kocht. Ob der auch hier wohnt oder wohnen soll? In dem für uns vorgesehenen Zimmer, das winzig, dunkel und stickig ist, sehe ich lediglich zwei Sofas. Der Gang dazwischen führt in den zweiten Raum, der Gismo und Aischa vorbehalten ist. Die beiden kleinen Holländerinnen nehmen allerdings, nachdem sie sich die enge Treppe in die erste Etage hochgeschoben haben und uns der Gestank des Klos entgegenschlägt, gleich Reißaus und lassen sich in ein wie sie meinen „anständiges Hotel“ bringen.

Ich kann nicht mehr fotografieren. Meine Kamera funktioniert nicht mehr. „Die Batterien sind zu heiß geworden“, diagnostiziert der königliche Hassan. Also habe ich alle Batterien und die beiden Packs Vorratsbatterien in Eiswasser gelegt, die Idee dazu stammt ebenfalls von Hassan Deux, irgendjemand hat Eiswürfel irgendwoher besorgt. Hier, in Gismos Wohnung, gibt es natürlich keinen Kühlschrank. Es gibt überhaupt keinen einzigen Schrank. In dem hinteren Zimmer steht einzig das Bett von Aischa und Gismo mit hellblauer Tülldecke und in einer Ecke befinden sich aufeinander gestapelte Kleider. Dazu noch ein schmales Regal, darin stehen ein paar Kosmetikartikel und Fotoalben. Sie sind Aischas ganze Habe, die sie beim Verlassen ihrer Heimat, Sierra Leone, mitgenommen hat und die einzige Verbindung zu ihrer dort noch lebenden Familie. Man kann sich in dem Zimmer kaum noch drehen, so vollgestopft ist es durch das spärliche Mobiliar. Ein Fenster gibt es hier nicht und im Türeingang hängt lediglich ein Vorhang.

Aber hier wird mir schlagartig klar, wieso Manu mit seinem wenigen Reisegepäck auskommt. Er hat bloß eine kleine Schultertasche, in der er eine pinkfarbene Zahnbürste und ein Glas Nutella transportiert und wir sind doch immerhin für etwa 10 Tage unterwegs. Er gibt hier er alle seine Sachen, alles, was er am Leibe trägt, an Aischa, dass sie es waschen soll und er fischt sich derweil aus dem Kleiderstapel etwas zum Anziehen aus.

Ich habe geduscht – d.h. Wasser aus einem Eimer mit Schöpfkanne über mich geschüttet, neben dem stinkenden Kloloch. – ich glaube das Wasser läuft durch ein Rohr einfach auf die Straße in ein Auffangbecken aus Lehm. Das ganze Haus, Parterre, erste Etage und zweite Etage mit den jeweiligen Dachterrassen, alles ist aus Lehm gebaut.

Ich blicke von der Dachterrasse, die zu Gismos Wohnung gehört, auf die Dächer der anderen Häuser der Straße. Alle sind einheitlich lehmfarben und erscheinen im Licht des aufgegangenen Mondes jetzt fahl. Bloß einzelne Wände scheinen aus hellerem Material gestaltet. Die Straße ist nicht befestigt, d.h. sie besteht ebenfalls aus braun staubigem Lehm. Im Bad und im Zimmer Lehmboden, die ganze Terrasse aus Lehm, der Boden, die Wände, die Geländermauer der Terrasse, alles rund und handgeformt, weich und natürlich, geschliffen, gestreichelt… Die Treppenkonstruktion ist interessant. Aus dem dunklen Innenhof des Hauses steigt sie steil nach hier oben und führt so wieder ins Offene, Luftige- , endet allerdings unvermittelt vor der Mauer. Von ihrer letzten Stufe aus gelangt man entweder nach links biegend zur Terrasse der ersten Etage und den beiden sich anschließenden Zimmern von Gismo und Aischa, oder nach rechts auf den Gang am Bad vorbei zu einem langen Flur, von dem man aus die Wohnungen dieser Etage, die von anderen Menschen bewohnt werden und den Aufgang zum Dach erreicht. Es gibt kein Licht und das Klo stinkt tatsächlich unsäglich. Das sogenannte Badezimmer ist ein winziger Raum mit einer Fensteröffnung, so groß wie ein ausgelassener Ziegelstein, darin steht ein abgebrannter Kerzenstummel. Das Klo selbst ist ein Loch im festgestampften Boden und zur Wasserspülung, zum Hände und Haare waschen, zum Kaffeekochen und Duschen holen sie einen Eimer Wasser von unten herauf. Unten im Innenhof des Hauses befindet sich eine Wasserstelle, der Hahn wird jedes Mal bei Gebrauch mit einem Vierkantschlüssel auf und zugedreht und dann wird der Schlüssel an geheimer Stelle versteckt.

Die Tür vom Baderaum lässt sich nicht richtig verschließen, es gibt noch nicht mal einen Nagel in der Wand, auf den man seine Klamotten hängen könnte, wenn man duscht und ein bisschen peinlich ist es mir, dass ich, wenn ich aufs Klo muss oder duschen will, nach Gismo und nach Wasser oder nach Kerze schreien muss, wie ein kleines Kind.

Von den Straßen herauf hört man die Stimmen. Hier hat noch niemand Ruhe, obwohl es fast dunkel ist. „Le pétit soir“ nennt Manu diese Tageszeit und die sollte man mit einem Tee genießen, sagt er.

Abanna heißt schluss jetzt und Feierabend und doni doni mahnt zur Ruhe und Bedächtigkeit. Eine Tugend, die man zur Zeremonie des thé vert unbedingt braucht.

Ein Holzkohlefeuer wird in einer Schale entfacht, man muss ein Paket Tee und 5 Becher Wasser in der Teekanne zum kochen bringen, dazu einen Becher Zucker geben. Dann wird der Aufguss in den Becher geschüttet und wieder zurück in die Kanne, sicher zehn mal oder mehr, jedenfalls solange, bis der Tee im Becher schäumt. Manu beherrscht diese Kunst perfekt. Am Ende gibt er noch Vanillezucker hinzu. Dann ist der erste Tee fertig, und die erste Runde wird ausgeschenkt. Später wird die Prozedur mit kleinen Abweichungen wiederholt, dann gibt es einen zweiten Tee und einen dritten.

Diese Zeremonie ist den Menschen hier heilig. Manchmal erzählen sie, dass sie den zweiten Tee mit dem oder dem getrunken haben, oder dass sie sich zum dritten Tee mit diesem oder jenem getroffen haben.

Dabei gilt: der erste Tee ist bitter wie der Tod, der zweite doux comme la vie und der dritte sucrée comme l´amour.

Und während wir den ersten, den zweiten und den dritten Tee gemeinsam trinken, in der samtweichen Luft des Abends, unter Mond und Sternen wunderbar geborgen auf der kleinen Dachterrasse, erschließt sich auf intime Art das Wesen dieses Hauses. Man muss es begreifen, dieses und überhaupt die Häuser, man muss ihnen zuhören. In ihnen schwirren überall Stimmen und Lachen, von unten klingen Gitarrenakkorde herauf, von oben gluckst Gekicher die hohen Treppenstufen hinab. Man weiß nicht, wer eigentlich wo wohnt, wer hier zu Besuch ist, wer Nachbar ist, wer dauerhaft zu bleiben beabsichtigt. Ein ständiges Kommen und Gehen summt durch das Haus, jemand bringt Obst, jemand tritt aus einer abseits liegenden Kammer, jemand schläft auf der Couch, dem einzigen Möbel im einzigen Gesellschaftszimmer der Wohnung, die offenbar jeden Besucher aufnimmt, ihm Herberge bietet.

Alle Häuser sind aus Lehmziegeln gebaut. Darüber ist eine Art Putz gestrichen, ebenfalls aus Lehm. Jedes Haus hat ein oder zwei Stockwerke und darauf und darum herum mehrere Dächer oder Terrassen, alle mit halbhoch gemauerten Geländern, diese Mäuerchen ebenfalls aus Lehm und handverputzt. Von jeder Terrasse aus guckt man auf die Terrassen und Dächer der Nachbarshäuser, ruft sich etwas zu, zieht einen Eimer herauf, schüttelt eine Decke aus oder trägt ächzend die schweren Baumwollmatten, auf denen die Bewohner des Hauses schlafen, die schmalen, hohen Treppenstufen hinauf auf das Dach.

So wie die Konstellationen der in den Häusern lebenden Menschen immerfort wechseln, so wie sich das Leben in ihnen beständig verändert, so verändern sich auch die Häuser selbst, gemächlicher zwar, jedoch ohne Unterlass. Sie selbst sind lebendige Wesen, warm , weich und rundlich, und fast scheint es, dass sie atmen.

Sie ähneln einem Teig, der im Backofen aufgeht, Blasen wirft und wieder zusammenfällt. Immer wieder, bei jedem Regen, weichen der Boden und die Wände auf. Manchmal bricht ein Stück Mauer ein, manchmal schwimmen Teile davon. Immer wieder muss erneuert, ergänzt und ausgebessert werden. Der Lehm wird mit bloßen Händen festgeklopft. In manchen Fassaden sind die Handabdrücke gut sichtbar.

Alle Häuser sind wunderschön geschmeidig, keine Ecken, keine Geraden, keine rechten Winkel, die ganze Stadt handgemacht und rund. Jedes hat ein Bassin an der Straße, darin wird Regenwasser, vielleicht auch Abwasser und Lehm gesammelt, um nach einem Regenguss gleich das Baumaterial für das lädierte Haus zur Hand zu haben.

So verändern sich die Häuser immerzu, werden beständig neu geformt und umgemodelt, abhängig davon, ob wenig oder viel Wasser auf sie hernieder fällt und die Bausubstanz mit sich fortschwemmt, abhängig davon, ob große oder kleine Hände den Schaden ausbessern, ob eilig gearbeitet wird oder ob hingebungsvoll und mit Muße das Fell der Häuser gestreichelt und gestriegelt wird. Die Sonne brennt sie dann in Form und hält sie instand, bis der Wind den unter ihrer sengenden Glut zu Staub gewordenen Lehm fortträgt oder bis dass beim nächsten Regen das Wasser das Material erneut aufweicht.

Manches an diesem Abend erinnert an den Süden Tunesiens, aber hier schwirrt die Luft von Leben, von Musik. Hier gibt es nicht die Verlassenheit, die über jenen Städten liegt, die man dort zuweilen auf den Straßen spürt. Hier ist alles lebendiger, voller, vitaler, trotz der „katastrophalen Zustände“ würde das westeuropäische Auge sagen, oder besser die westeuropäische Stimme. „Hier“, sagt Hassan Deux mit seiner maliesischen Stimme, „Hier ist das Paradies“. Dabei nuckelt er Rotwein aus einem Plastiktütchen. Und dann stellt er sich näher vor. Er kennt Manu seit 20 Jahren, er sei sein Bruder, und mit Manu habe ich einen sehr kompetenten Guide bekommen, der kenne viel und wisse viel und habe ein gutes Herz. Er selbst habe in Tunis Jura studiert, finde aber hier keine Arbeit und sei deshalb Künstler. Anscheinend ist jeder in Ségou Künstler, denke ich. Und weiter lässt er mich wissen, dass er seit 15 Jahren mit seiner französischen Frau verheiratet sei und zwei Stiefsöhne habe und dass er morgen auch nach Timbouktou wolle, seine Frau abholen, sie habe dort Medikamente besorgt. Schließlich zeigt er mir seinen Ausweis, in dem sein Alter auf 46 Jahre angegeben ist. Dabei sieht er viel jünger aus. „Tja“, meint er, er habe ein Gesicht wie ein Baby, dabei aber den Kopf eines Weisen. Das mit dem Babygesicht o.k., wie er so daliegt und an dem Tütchen saugt, aber der Kopf eines Weisen?

Wir, Hassan Deux, Manu und ich, unternehmen zu dritt noch einen Gang durch die nächtlichen Gassen von Mopti. Manu versucht noch einmal sein Glück, mir Dimanche a Bamako beizubringen, er wird schon ungeduldig, dass sich in meinen Gesangsversuchen so wenig Lernerfolg zeigt. Hassan Deux ist angetrunken, er stolpert, ein vorbeirauschendes Auto fährt über seinen Flipflop. Der Autofahrer hält an, lässt seinen Schreck an dem verdatterten Hassan aus, beschimpft ihn wütend. Manu Chao geht in einen Juwelierladen, kauft sich, da er die Hälfte des Guidehonorars ja bereits als Vorschuss in der Tasche hat, einen silbernen Ohrring und ersetzt umgehend den Blechring, den er bis jetzt im Ohr getragen hat. Hier liegt auch der wunderschöne, filigrane Goldschmuck, den viele Frauen tragen. Ich würde mir auch gerne solchen Schmuck kaufen, aber will doch lieber vorsichtig mit dem Geld umgehen. Wer weiß, ob ich noch einmal bei einer Bank Geld bekomme und das Desaster von Bamako hängt mir noch in den Knochen. Erst nach drei Tagen und in der 13. Bank ist es mir dort gelungen, mit meiner Kreditkarte Bargeld zu bekommen, obwohl alle Banken das Emblem der Mastercard an ihren Türen hatten. Wir kaufen noch Mineralwasser und Mangos und gehen zeitig zur Ruhe.

Wenn ich die Augen schließe, beginnen die Bilder im Kopf zu tanzen: Der rumpelnde Bus, die Farbigkeit der Erde, ein blasses cremefarbenes Rot mit Nuancen von Rosa und Violett, dann ein kräftiges Aubergine, Orange, Karmesinrot, Purpur, dazu frisches Grün in allen Variationen, Sträucher Bäume, das Braun der Stämme und das Gelb der schon vertrockneten Blätter. Die Einblicke in die Dörfer, an denen wir vorbeikommen, ummauerte Gehöfte mit Speicherhütten und Backöfen. Immer zwei nebeneinander. Davor Holz, dicke Äste, Stämme.

Beim ersten Halt der Run der Teenies mit ihren Waren auf den Bus zu. Ein Mädchen hat mich schon von Außen ausgeguckt, um mir ihre Kekse zu verkaufen. Sie dürfen den Bus nicht betreten. Wie sie sich vor der Bustür drängeln, schreien, ihre Ware feilbieten, alles in kleinen Plastiktütchen verpackt, die Beutelchen hoch über ihre Köpfe haltend, wie sie plötzlich doch in den Buseingang einbrechen, wie eine Welle schwappen sie in den Bus, werden brutal zurückgedrängt. Dann nur noch Hände, Hände, ein Meer von Händen, die in den Bus hineinreichen!

Kinder, die mich umringen, als ich bei einer kurzen Rast aussteige, denen ich Datteln und Maniokgebäck abkaufe, einer Kleiner, Vierjähriger, der auf einem Affenschädel wie auf einer Süßigkeit kaut.

Die Farben, die Früchte, der Duft von Mangos, die Menschen, wie sie gehen, wie sie die Lasten voller Anmut auf dem Kopf balancieren, das Mädchen, dass in einer Wanne am Straßenrand sitzt und sich hingebungsvoll einseift...

Und das Auto, von dessen Dachreling Hühner zum Verkauf hängen, jemand der zwei Ziegen im Gepäckkorb des Fahrrads transportiert. Auf dem Dach eines LKW Schafe, deren Hälse vom Dach herunter hängen und die schon ziemlich tot aussehen.

Unterwegs wird der Boden und der Himmel plötzlich weiß. Ein Sandsturm zieht auf. Der Regen bleibt noch aus.

Am nächsten Morgen auf dem Dach: Außer Manu Ciao, der mich auch diese Nacht nicht aus den Augen gelassen hat und sein Lager neben dem meinen aufgeschlagen hat, und mir liegen hier noch sechs, sieben andere Gestalten. Alle haben die Bettlaken bis über die Gesichter gezogen. Die Farben sind nach der Nacht noch nicht zurückgekehrt. Bloß das Milchweiß der Sonne, das Lichtgrau des Himmels und die schwarzen Silhouetten der Antennen; der Strommast, der ins Leere ragt und dann plötzlich Rauschen über mir: Der Flügelschlag einer Vogelwolke, die über mich hinwegfegt – und schon während dieses kurzen Momentes über mir ändert die Wolke ihre Gestalt. Meine Blicke folgen der Wolke, die jetzt wie ein gigantisches Sperma, einen Kopf voran einen nicht endenden, sich windenden Schwanz nach sich zieht. Es müssen tausende Vögel sein, kleine, schnell flatternde, flügelschlagende Wesen, jetzt bilden sie eine Spirale wie das Licht in van Goghs Nachtbild – hier aber schwarz vor grau. Gegen die Sonne ziehen sie Richtung Niger, vereinigen sich dort mit einer zweiten Schwarmwolke, driften auseinander, verschwinden im Dunst - wie ein Spuk, wie der morgendliche Tanz wer weiß welcher Geister – vielleicht die Seelen der Ahnen, die ihren Segen für heute auf die Stadt herabschicken, sie umrunden, sie wohlwollend aufnehmen in ihr zeitloses Fortdauern.

Hassan Deux und Osman, der Besucher von gestern Abend, haben eine Matte auf die Terrasse von Gismos Wohnung gelegt und dort geschlafen. Als ich vom Dach heruntersteige, räumt Hassan Deux gleich die Matte ins Wohnzimmer, damit wir alle Platz finden auf der doch recht kleinen Terrasse. Auf der Mauer liegt wieder eine Tüte mit rotem Wein. Ich frage Hassan Deux nach den Vögeln. Es sind les Girondes, parce qu´on a la saison du riz, der Reis beginnt zu wachsen, die Regenzeit beginnt.

Die Stadt summt. Ein Konzert aus Stimmen und Geräuschen. Jemand schrubbt über einen Stoff, das Flüstern der zierlichen Ebereschenkronen, Schafe blöken; da klopft jemand auf irgendetwas, vielleicht auf eine Schlafmatte, einzelne Kinderstimmen, ein Ball springt auf von der Sonne gebranntem, festgestampften Boden, die Frauen, die hier unten an der Straßenkreuzung Galettes backen. Ihre dampfenden Fettpfannen, in denen die sich goldgelb färbenden Küchlein brutzeln, werden umlagert von den Kindern, die offenbar geschickt sind, die Kuchen als Frühstück nach Hause zu bringen, in Kesselchen oder Schüsseln, die auch die Kleinsten auf dem Kopf balancieren.

Auch wir essen zum Frühstück diese köstlichen, heißen Küchlein, sogar in Luxusausführung mit Nutella, dank Manus Reiseproviant. Der Tag beginnt gemächlich. Die Blätter rauschen - über die Mauern sausen Echsen, der Hufschlag der Esel, die im Galopp durch die Gassen jagen. Der kleine Kassettenrecorder spielt Salif Keita. Er spielt Kora und Manu singt mit in seiner Muttersprache Bambara. Salif Keita ist sein Lieblingsmusiker, den mag er noch lieber als Manu Chao. Bambara ist eine ungewohnte Sprache, eine Vielzahl von Brabbellauten, die mitunter auch ganz schön heftig werden können, z.B. wenn die Frauen im Bus ihre Angelegenheiten regeln. Bambara – allein schon wenn man dieses eine Wort ausspricht…

Auf dem Donnerstagsmarkt in Mopti kaufe ich eine Kette mit Kamelzahn und zwei fein gezeichnete Perlen. Solche Perlen waren früher Zahlungsmittel. Manu sucht fachmännisch eine ganze Tüte roter und weißer Colanüsse aus. Die sind wichtig als Gastgeschenke, wenn wir ins Dogonland gehen.

Wir besuchen noch Manus Großmutter. Wieder so ein Fall verwirrender Verwandtschaftsverhältnisse. Genauso wie Manu mehrere Mütter hat, mindestens eine verstorbene und zwei lebende, so hat er auch viele Großmütter. Diese hier ist seine Großmutter, weil er ein paar Jahre bei ihr gewohnt. Wir treten in einen kleinen Hof und steigen in die erste Etage. Die Dame freut sich offenbar sehr, Manu zu sehen. Wir werden in den Schatten in ein Zimmer gebeten, in dem nebeneinander drei Betten stehen. Die Betten scheinen zugleich Sitzgelegenheiten zu sein. Jedenfalls soll ich auf einem Platz nehmen, die Großmutter sitzt auch auf einem. Sie zeigt Manu gleich den Topf mit Hirsebrei. Auf der Fensterbank steht ein Schüsselchen mit Hirseschaum. Ich soll den Brei, den die Großmutter heute gekocht hat und auch den vielleicht auch schon vergorenen Hirseschaum probieren. Er schmeckt mir überhaupt nicht und ich bin froh, dass man mich nicht nötigt, mehr als einen Probierlöffel davon zu nehmen. Dann darf ich dabei sein, als die Großmutter und Manu ihr Benedicationsritual veranstalten. Die Großmutter beginnt mit einem Singsang und Manu wiederholt die Worte. Und Manu ist offenbar sehr zufrieden mit dem Segen, den die alte Dame für ihn erbittet.

« Il faut toujours faire des benedications. C´est très important, » sagt er. Dann besuchen er und ich noch seine schöne dicke Freundin. Die ist, vermute ich, zunächst ganz nackt, denn wir müssen draußen warten und als wir eintreten dürfen in ihre EinRaumWohnung, hat sie nicht gerade viel Kleidung an. Auch der Großmutter hing manchmal die nackte Brust aus dem Gewand, was aber niemanden zu stören scheint.

Mein Fotoapparat funktioniert immer noch nicht. Anscheinend haben die Batterien samt und sonders den Geist aufgegeben. Das wäre aber sehr schade, denn heute soll es weiter gehen nach Timbouktou, jene sagenhafte Stadt, deren Name allein schon magisch klingt.

In Mopti wollen wir um 10 Uhr aufbrechen, aber bis dann die Mädels aus ihrem Hotel bei uns sind, bis wir Wasser gekauft haben... ja und der Fotoapparat.

Es gibt tatsächlich einen Fotoladen in Mopti. Dort stellt sich heraus, die Batterien sind o.k. Aber der Apparat funktioniert nicht. Aufmachen kostet 2000 Malifrancs– eine Reparatur viel mehr. Er soll erst einmal den Fotoapparat öffnen und schauen, wo der Fehler ist, beauftragt Manu Ciao den Fotofachmann. In einer halben Stunde können wir wieder vorbei kommen – Während Manu in dieser Zeit die Fahrt mit dem Buschtaxie organisieren will, werden wir, d.h. Anneke, Mirthe, ich, Gismo und Hassan II, also vorerst werden wir auf eine Piroge gebracht und man könnte meinen, dort auch vergessen. Zwar wartet man hier angenehm, es gibt Schatten und die Piroge schaukelt ein wenig auf den Wellen des Niger, aber wir warten endlos lange, ohne dass etwas geschieht. Irgendwann fangen Gismo und Hassan II wild an zu telefonieren. Da heißt es: unser reserviertes katkat, das Buschtaxi mit Vierradantrieb, ist noch nicht voll, wir müssen noch weiter warten. Gismo und die Freunde, die auch auf der Piroge auftauchen und palavern, fangen erst mit dem Kif an,– und dann mit dem Gin aus den Plastiktütchen. Alles gibt es hier in Plastiktütchen.

Als wir endlich zum Taxiplatz geholt werden, verkauft mir Manu seinen blauen Tuaregschal und kauft sich einen neuen. Ohne Schal kann man die Fahrt nicht antreten, sagt man uns. „Und der Fotoapparat?“, erinnere ich ein wenig panisch.

Gismo und der Fahrer unseres Taxis fahren mit mir zum Fotomann. Der, obwohl nun mehr als drei Stunden vergangen sind, und der Laden jetzt geschlossen ist, ist, Gott sei Dank, doch da. Er hat in der Zwischenzeit den Apparat zwar auf- aber noch nicht wieder zu gemacht und will für die Reparatur 20 000 Francs haben. Wir diskutieren darüber, mir ist der Preis zu hoch, ich will die Reparatur nicht bezahlen, er soll den Apparat wieder schließen und die verabredeten 2000 kriegen. Das will er nicht. Es entsteht ein wilder Disput, den im wesentlichen der angekiffte und angetrunkene Gismo und auch der Taxifahrer bestreiten. Ich stehe etwas belämmert daneben und verstehe nichts von den wüsten gegenseitigen Beschimpfungen. Mittlerweile greifen umstehende und angelockte Personen in den Streit ein, führen ihn mit Engagement fort, während der Fotomann sich zurückzieht, um, wie sich herausstellt, den Apparat zu schließen. Dauer etwa 2 Min. Danach behauptet er, jetzt sei der Apparat repariert, und ich müsste jetzt 20 000 Francs zahlen. Am Ende gebe ich ihm 5000 und zerre an meiner Kamera, er ebenfalls, Gismo schreitet wieder ein und schließlich entreiße ich dem Mann meine Kamera und verschanze mich im Auto. Seltsame Geschäftsmethoden, auf die ich mich hier einlasse, wundere ich mich über mich selbst. – Während ich mit meiner Kamera, die tatsächlich wieder auslöst (ich mache ein Probefoto vom Kameramann – sie war auch nur verdreckt, hat der Mann gesagt...) während ich also ins Auto geflüchtet bin, schimpft Gismo immer noch bien couragé vom kif und vom Gin und will sich gar nicht mehr losreißen.

Am Sammelplatz für die Buschtaxis nach Timbouktou, direkt neben dem Ziegenmarkt, dauert es jetzt doch noch etwa eine Stunde, bis wir startklar sind. Hinter dem Gebäude stehen ein paar Hütten. Hier ist das Areal der Mattenflechter. Überall sitzen sie bei ihrer Arbeit. Mitten drin befindet sich die öffentliche Toilette. Sie besteht lediglich aus einem großen Stein, mit einer Matte darum als Sichtschutz.

Unser Gepäck ist auf dem Dach des Taxis brousse verladen und mit Seilen fest verschnürt. Zuletzt wird noch ein Schaf mit verzurrten Beinen in einen Sack gesteckt und oben auf den Gepäckturm geladen. Und dann heißt es, weil für die Strecke Timbouktou über Douenzenta immer noch nicht genügend Passagiere da sind, fährt dieses Taxi nicht und wir müssen in ein anderes, das nicht die gut ausgebaute Straße bis Douenzenta. nimmt, sondern direkt hinter Mopti eine nirgendwo verzeichnete Piste über Nantaka, Masako, Konza, von da aus über Koientzé, Ngorkou, Saraferé, Niafounké (Ali Faka Tourets Stadt), Dire, Goundan und dann Timbouktou nimmt.

Also noch einmal abladen und alles wieder aufladen, auch das Schaf.

In der Verwirrung ist Hassan Deux uns als Mitreisender verloren gegangen. Er hat offenbar eine andere Reisemöglichkeit gefunden.

Die Strecke ist mörderisch, das Katkat, ein Toyota-Pritschenwagen, im Laderaum mit 17 Personen beladen. Ein Dach besteht aus einer Wellblechkonstruktion, ein paar Bretter dienen als Sitzbänke. Jede Unebenheit des Bodens - und die Piste besteht aus vielen Unebenheiten- geht ungefedert in den Körper. Das flatternde Wellblechdach macht ohrenbetäubenden Lärm. Wir sitzen wie die Ölsardinen, können uns nicht bewegen, schwitzen und schweigen. Das Höllengefährt produziert eine gewaltige Staubwolke, die natürlich auch in den offenen Laderaum zieht. Gleich ziehen alle ihre Tuaregschals an. Die beiden alten Herren, die mitfahren, zuerst. Sie zeigen mir mit „oui“ und „non“ noch einmal, wie der Schal gebunden wird: Ein Ende festhalten, Tuch über den Kopf, dann drei Runden, feststecken, den Rest als Mundschutz oder so ähnlich. Sie nicken bestätigend und fallen dann wieder in die stoische Haltung, die den einheimischen Passagieren eigen ist, zurück, schweigend und ergeben. Selbst das mitreisende Baby scheint diese bereits als die beste, eine solche Tour de force zu überstehen, verinnerlicht zu haben. Zu Beginn der Fahrt mäht das Schaf noch ein paar Mal, dann ist es ebenfalls ruhig, es übersteht den Transport sogar, wie sich später herausstellen wird.

Gismo sitzt völlig stoned auf der Ladeklappe unseres Gefährts. Er hat Schluckauf vom Gintrinken oder Marihuana Rauchen. Ich habe ihm ein Tuch von mir gegeben, das, weil viel zu klein, nur dürftig sein Gesicht verhüllt. Er sitzt mitten in der Staubwolke, seine Augen fallen ihm immer wieder zu oder bleiben manchmal auch geschlossen. Immer wieder sackt er in sich zusammen. Er dümpelt irgendwo in ganz anderen Welten herum, bekommt anscheinend gar nichts mehr mit, ich mache mir Sorgen, dass er bei der halsbrecherischen Fahrt einfach vom Auto kippt.

Für Anneke ist das alles zuviel. Sie sitzt an einem denkbar schlechten Platz, an der Nahtstelle, da, wo zwei Holzbretter der Sitzbank aneinander stoßen. Ihr wird schlecht und sie fängt zu heulen an. Schließlich darf sie nach vorne in die Fahrerkabine, dort, wo die besseren Plätze sind und wo außer dem Fahrer nur ein wie es heißt reicher Mann sitzt. Oben auf dem Dach sitzt der Navigator, der, wenn der Fahrer falsch fährt oder sonst irgendetwas beachten soll, was der Späher von seinem Ausguck aus sieht, auf das Dach klopft und sich so mit dem Fahrer verständigt.

Wir machen manchmal Halt, wenn der Wagen im Sand feststeckt oder wenn die Muselmänner beten wollen. Einmal durchqueren wir einen kniehohen Fluss und alle Passagiere müssen aussteigen. Einmal wird ein Reifen gewechselt und ich nehme währenddessen eine Abkühlung im Niger, an dessen linken Ufer wir nordwärts fahren. Ich stakse mit bis zu den Knien aufgerollten Hosenbeinen durch den sanften, warmen Fluss; über mir der noch blasse Vollmond. In der letzten Stadt, in der wir Pause machen, in Ali Farka Tourés Stadt, lege ich mich für einen Moment auf mein blaues Turbantuch in den Sand und schlafe auf der Stelle ein.

Gegen 1.00 Uhr kommen wir im nächtlichen Timbouktou an. Jetzt steht der Vollmond groß und hell am Himmel. Timbouktou ist eine große Stadt. Immer noch, das ist der erste Eindruck, auch wenn alle Straßen aus Sand bestehen. Aber sie sind breit und auch die Häuser sind größer und anders als in Mopti. Ich gehe barfuß durch den wunderbar weiches Sand bis zu unserer Unterkunft. Timbouktou, das wir nach anstrenger zehnstündiger Fahrt erreichen und in dessen Norden sich die schiere Wüste anschließt, das einst, kaum vorstellbar jetzt, die bedeutendste naturwissenschaftliche Universität Nordafrikas besaß, Timbouktou, dessen ehemaliger Reichtum und dessen Gold legendär sind. Hier kommen immer noch die Karawanen aus der Wüste an, hierher bringen sie immer noch das Salz in großen Blöcken aus der Teneré.

Wir bilden schon selbst eine kleine Karawane – drei Frauen, Gismo, Manu, zwei Jungs, die die Wasserkartons tragen und der Hausherr Isaak, bei dem wir wohnen werden.

Anneke und Mirthe gehen gleich schlafen. Ich breche noch mit Manu und Gismo und Isaak und Amadou, dem Übersetzer von Bambara in Tamaschek, die Sprache der Tuaregs, die hier gesprochen wird, zu einem Restaurant auf, denn dort hat man extra für uns gekocht und auch auf uns gewartet, obwohl ganz Timbouktou ansonsten bereits im Tiefschlaf liegt. So essen wir also, die vier Jungens und ich. Sie beschließen, mit den Fingern zu essen, ohne Besteck, sie scheinen das nicht immer zu tun, aber gewissermaßen zur Feier des Wiedersehens, besinnt man sich auf die alten Rituale. Wir bekommen einen Eimer mit Wasser gereicht, so dass wir uns am Tisch die Hände waschen können, Wir essen Huhn und etwas Frittiertes, dazu gibt es Wasser zu trinken, nicht aus der Flasche, also nicht desinfiziert. Ich finde es allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz köstlich und erfrischend und ich stürze mindestens drei Becher davon hinunter.

Die Jungs freuen sich sichtlich, einander wieder zu sehen, Neuigkeiten werden ausgetauscht, ein bisschen über die Touristen gelästert, wir lassen es uns schmecken.

In der Stadt liegen hier und da Menschen im Sand am Straßenrand. Sie schlafen dort, friedlich und aneinander gekuschelt. Auf einem freien Feld liegt jemand, aufgestützt auf seinen Ellenbogen, mit der Gebetskette zwischen seinen Händen, angestrahlt vom jetzt hell scheinenden Mond. Ich frage, was dieser Mann macht. Manu erklärt, dass man in der Nacht, wenn alle schlafen, am besten Kontakt mit seinem Gott haben kann, und dass man dann am besten mit ihm sprechen kann.

Da, wo wir noch zum Bier erwartet werden sollten, liegen die Menschen längst im Innenhof auf den Matten und schlafen. Der Patron des Hauses hat zwar auf unser Klopfen reagiert, öffnet uns, aber man flüstert nur und wir gehen dann ohne Bier wieder weg. Es ist ja auch mittlerweile nach drei Uhr nachts. Auf dem Nachhauseweg durch die nächtlichen Straßen von Timbouktou kräht der erste Hahn.

© Birgit Bodden