Schrittmacher Dansgroep Amsterdam 

 

Am Freitagabend um 20.30 Uhr eröffnete Kulturdezernent Dr. Olaf Müller das 14. Schrittmacherfestival im Aachener Ludwigforum. Das Festival von „Tanz und tanzARTigem von heute“ trägt in diesem Jahr ebenfalls den Zusatz „modern“, was in diesem Fall zugleich einen Blick nach vorn, aber auch zurück bedeutet; denn der Modern Dance, vor allem von Nijinski geprägt, hat vor rund 100Jahren für Furore gesorgt. Damals wurden zum ersten Mal die Grenzen des klassischen Balletts gesprengt. Freies Spiel, Experimentieren, abstrakte Darstellung entfalten dabei die schöpferische Kraft des Körpers und definieren erst den Raum, in dem die Tänzer sich bewegen. Was ist heute daraus geworden und wohin entwickelt sich der Tanz, das waren die beiden Fragen, die Rick Takvorian, Festivalmacher zu Beginn des sechs Wochen dauernden Tanz-Events als dessen programmatischen Leitfaden erklärte und die von insgesamt acht Tanzformationen höchst unterschiedlich beantwortet werden sollen.

 

Mit großer Spannung und großer Erwartung wurde die noch vor jeder Premiere eigens für das Festival entwickelte Stückfolge der noch ganz jungen Dancegroep Amsterdam erwartet. Die Eröffnung des Festivals war ihr allererster Auftritt in Deutschland und die Premiere des Programms der acht Tänzerinnen und Tänzern um die Choreografen Krisztina de Châtel und Itzik Galili wird erst Ende März in Amsterdam dargeboten.

 

Eine gute Wahl, wie die Tanzgruppe unter Beweis stellte. Den Auftakt machte Massimo Molinari mit einem Solo, bei dem er von einem einzigen Punkt der Bühne aus agierte. Ein 12 Minuten dauerndes Stück, das beklemmende Monotonie und zugleich eine schier berstende Kraft zeigt. Die Drehung des Körpers um den nie verlassenen Standpunkt erfolgt allein aus der Energie, dem Schwung und der Präzision seiner Armbewegungen, die raumgreifend, mechanisch und zugleich doch überaus anmutig wirken.

 

Fragile, ein Stück über das nie zuende zu bringende Thema „Mann und Frau“, getanzt von Chris Tandy und Natalia Rodina, gewinnt seine Faszination aus den immer wieder neu geschaffenen emotionalen Positionierungen. Der Mann präsentiert zu Beginn ein fast panisch anmutendes Werben um die Frau, die, ihn erhörend, sogleich beginnt ihn zu entfalten. Macht und Ohnmacht, Verwundbarkeit und Hingabe treiben das Umkreisen, Anziehen, Umeinanderwinden und Abstoßen des Paares an. Spannungsvoll und meisterhaft getanzt. Nur für Augenblicke lassen die Tänzer eine Harmonie synchroner Körperbewegungen sichtbar werden.

 

Unübertroffen ist aber Myrthe Opstal in einer Choreografie von Massimo Molinari in ihrem Solo mit dem nüchternen Namen: Solo in Perspective. Sie ist Tänzerin, Pelztier, Schamanin und Magierin, verzauberte und verbannte Kreatur in einem. Wenn Modern Dance Grenzen überschreitet, dann gelingt dies sicher hier. Mit einem Minimum am Requisite – auf das hellbraune Trikot sind am Rücken zwei lange Fellstreifen angebracht und die Hälfte des Gesichtes ist weiß geschminkt – kommt diese junge Künstlerin aus. Alles andere lässt sie entstehen. Mit ihren katzenhaften, hyänenhaften, animalischen Bewegungen durchquert sie den gesamten zur Verfügung stehenden Raum. Schleichend, flüchtend, lauernd, sich trollend erklimmt sie Stufen und bezieht die Pfeiler in den sich entwickelnden Raum ein. Ihr Tanz rührt an alte Mysterien und tiefste, wilde Teile der Seele. Ein starkes Stück Tanz, bezwingend, bestechend, fesselnd und doch von flüchtigster Leichtigkeit.

 

Birgit Bodden, 27.2.2009

 

 

 



Retour en avant, Compagnie de Dance Hallet Eghayan

 

Retour en avant, so der Titel des zweiten Schrittmacherprogrammpunktes, sei zweifelsohne der klassischste Beitrag zum diesjährigen Tanzfestival, betonte Rick Takvorian vor Beginn des einstündigen Tanzprogrammes der Compagnie de Dance Hallet Eghayan. Dass die Zuschauer auch an diesem Abend höchst Interessantes erwarten durften, versprach die Tatsache, dass die diesjährige renommierte Biennale de la Dance in Lyon aus Begeisterung für dieses Werk dessen Titel für die gesamte Biennale übernommen hat.

Diese Reise durch die Geschichte der Beziehung zwischen Tanz und Musik beschenkt in der Tat mit einem intensiven Tanzerlebnis.

 

Die Widersprüchlichkeit des Zurück im Nachvorngehen setzte Eghayan, der Leiter seiner nach ihm genannten Compagnie, klar durchkomponiert in Szene. Beginnend mit einer Bestandsaufnahme des Modern Dance spannt das 1983 entstandene Werk den Bogen von einer bis zur völligen Separation getriebenen Lösung der beiden Kunstdisziplinen in der Postmoderne des französischen Balletts bis zu den Anfängen, der Einheit von Tanz und Musik. Am Hofe des Louis Quartorze etwa waren Tänzer auch zugleich Musiker. Johann Sebastian Bachs Tanzsuiten mit ihren Sarabanden, Gavotten, Menuetten und Badinerien sind die ersten Gehversuche dieser Trennung. Und so ist die Wahl und die Aufbereitung von Bachs Musik zu diesem Werk nur folgerichtig.

 

Im Agieren der sechs Tänzerinnen und Tänzer zeigt sich zu Beginn ein fast ins Banale geführter Tanz: ein nahezu belangloses Gehen oder ein hektisches Huschen über die Bühne, gelegentlich, wie aus Versehen eingestreute Schrittfolgen, bei denen man sich vage an klassisches Ballett zu erinnern glaubt. Typische Formationen, die man zu kennen meint, Sprünge oder Hebefiguren, erscheinen für Momente. Aber sie hinterlassen nichts als Irritation. An einer bloß im Gedächtnis aufbewahrten Vorstellung von klassischem Ballett zerplittert dieser Tanz in Puzzlestückchen, die sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen lassen. Tanz und Musik entfernen sich sogar weitest möglich von einander: es gibt Passagen, in denen das Ensemble gänzlich ohne die oft auch nur bruchstückhaften Einspielungen von Musik auskommen muss.

 

Die Tänzer treten als einzelne nicht in Erscheinung. Auch dass es sich bei dem Ensemble um jeweils drei Frauen und Männer handelt, spielt kaum eine Rolle. Sie bilden vielmehr eine Gesamtkomposition, einen Tanzkörper. Ihre Kostüme, schwarz oder weiß - in Variationen, erinnern an die Tastatur des Klaviers. Variation über ein Thema und Strophen vermag der Zuschauer auch in der Bewegungsfolge auszumachen. Soli schälen sich heraus, ähnlich wie ein einzelnes Instrument für kurze Zeit die Melodieführung übernimmt, um diese gleich an das nächste weiterzugeben. Und das ist das unglaubliche an dieser temporeichen Darbietung: so vage, so frei, so abstrakt das Ganze anmutet, es bleibt doch das eindringlich spürbar, was auch Bachs Musik ausmacht: virtuose Technik, klarer Rhythmus, überbordende Fülle, strikte Harmoniegesetze, Schwerelosigkeit und Transparenz.

 

Es ist so, als zeichne hier jemand ganz frei und völlig losgelöst von jedem möglichen erzählerischen Inhalt lediglich die Bewegungen der Musik nach und mache dadurch überdeutlich, was das Wort Choreographie ursprünglich bedeutet: ein Aufzeichnen, Verzeichnen einer chorischen Musik.

 

Unmerklich gewinnt das Stück an Dynamik. Immer fließender werden die Schrittfolgen, immer stärker erscheinen die Bewegungen des Ensembles wie reine Klangfülle, wie ein Schweben der Musik über die Tanzfläche. Und obwohl die Anklänge zuletzt, auch durch die nun berüschten Tanztrikots der Künstlerinnen und Künstler verstärkt, endlich das Vertraute etwa eines getanzten Menuetts zu erkennen geben, so bleiben doch vor allem die Bilder vom wogenden, wirbelnden, nahezu schwerelosen Reigen der Tänzerinnen und Tänzer lange präsent. Im Erleben tritt die Musik gänzlich in den Hintergrund. So deutet sich erneut die Trennung von Musik und Tanz an.

 

Retour en avant, eine Reise in die Geschichte des Tanzes, die also keineswegs das Credo eines Back to the roots anstimmt, sondern unter Rückerschließen der Ursprünge zugleich die Frage nach ihrer Fortführung entfaltet.

 

© 6.3.2009 Birgit Bodden