Essaouira
Endstation. Der Bus fährt im Gare Routiere ein, spuckt uns aus. Wir sind müde, schwitzen, sind erschöpft von der schier endlosen Fahrt in der glühenden Julisonne.
Zwischen dampfenden Busleibern, Abgasen, schreienden, drängenden Menschen warten wir darauf, dass der Bus seine Ladeklappen öffnet, um unsere Rucksäcke herauszufischen. Abschlepper steigen über Koffer, Kisten und Taschen: „Cherchez une chambre?“, „You need a hotel!“ Und noch in dieses drangvolle, beengende Geschiebe von Neuankömmlingen Heimkehrern und Wartenden greift jener besondere, allgegenwärtige Bewohner von Essaouira: Der Wind. Überraschend streift er Frische über die nasse Stirn, bläht die Hemden für einen Moment, streicht Kühle auf die glühende Haut. Die Rucksäcke, die zuletzt immer schwerer erschienen, tragen sich hier auf einmal leicht. Ich breite beide Arme aus. Die flatternden Hemdsärmel sind zwar keine Flügel, aber die Brise greift mir unter die Arme, treibt mich leichter auf die Medina zu, trägt mich durch die Straßen, die schmaler werdenden Gassen.
Medina und Mella, die beiden klassischen Teile der marokkanischen Städte - arabischer und jüdischer Teil, die gibt es auch in Essaouira. Dennoch ist Essaouira ganz anders. Statt eines undurchsichtigen Gewirrs von Gassen, verlaufen Essaouiras Straßen und Sträßchen rechteckig, quadratisch. Einst stand das Städtchen unter portugiesischer Herrschaft. Mogador, so der alte, immer noch magisch klingende Name, war Ort des Austausches zwischen Schwarzafrika und Europa, und steht immer noch für Offenheit, für Freiheit, Tradition und uraltes Wissen. Es ist Schmelzpunkt verschiedener Kulturen, verschiedener Religionen: Araber, Berber, Juden, auch Hamdouchi, die Vertreter einer spirituellen arabischen Tradition und Regrega, das sind Christen, die Muslims geworden sind. Eine vielseitige Melange, deren unterschiedliche Farbgebung sich bis heute in gegenseitigen Respekt bewahrt hat und die in der ihr eigenen Toleranz Magnet für Touristen ist.
Essaouira war immer schon eine Stadt der Fischer und Seefahrer und das ist sie auch heute, -der lebhafte Hafen, die Kitesurfer-, eine Stadt der Aussteiger und Künstler, eine Stadt, in der einst Jimi Hendrix nach Ruhe suchte, eine Stadt, in der auch Marokkaner ihren Urlaub verbringen.
Auf den Straßen, auf den Plätzen, findet sich neben typisch westlicher Kleidung - wie Spagettiträgerhemdchen, kurzer Rock oder kurze Hose - häufig auch der traditionelle, bodenlange Kaftan. Männer und Frauen tragen ihn gleichermaßen. Die lange Kapuze dient unterschiedlichsten Zwecken: mal hängt sie dekorativ herab, mal bedeckt sie lose das Haupt, mal wird sie – besonders gern von älteren Damen- abenteuerlich in Kombination mit Sonnenbrille und Baseballkappe getragen. Oder sie wird tief ins Gesicht gezogen, ihre Seiten blähen sich wie die altertümlichen Schleier von Nonnen und das Gesicht verschwindet gänzlich unter dem Hajk, dem schwarzen Gesichtsschleier. Manchmal dient sie aber auch zum Transport von Dokumenten oder ein Bettler sammelt darin Brot auf Vorrat.
Überhaupt die Bettler. Auch hier in Essaouira pflegen sie die Tradition, durch ihr permanentes Anhalten um Wohltätigkeit darauf zu achten, dass der geneigte Spender seinem Seelenheil näher kommen kann. Morgens z.B., wenn wir frühstücken, kommt immer der Alte mit den riesigen Augen hinter dicken, verschmierten und fast blinden Brillengläsern vorbei. Der Einladung, mit zu frühstücken, kommt er gerne nach, nimmt gleich die lästige Brille ab und streicht sich lächelnd und jetzt mit wachen, scharfsichtigen Augen und bloßen Fingern die Butter dick auf die Brote.
Zum Baden ist Essaouira nur bedingt geeignet. Gleich beim ersten Versuch, im Bikini ein Sonnenbad oder sogar ein Bad im Atlantik zu nehmen, müssen wir kapitulieren. Der Wind peitscht den Sand über den Strand. Im Kaftan mit Kopftuch und ganz verhüllt am Strand zu sitzen, wie das die Frauen tun, die sich lachend zu uns gesetzt haben, bekommt hier auf einmal auch für uns einen gewissen Sinn. Der Wind! Frierend verbrennen im Juli, auch das ist möglich in Essaouira.
Die Kinder in unserer Gasse. Sie sitzen offenbar den ganzen Tag auf den Stufen vor dem Türen, kichern jedes Mal, wenn wir vorbeigehen. Immer größer wird ihre Neugier: „Hallo“, „Bonjour“, „Salam“. Sie bieten unter Gejohle und Gelächter den Kleinsten aus ihrer Mitte zum Verkauf an. Abends trommelt eines der Mädchen, eine Zwölfjährige vielleicht. Virtuos! Ein Rhythmus, der begeistert: Synkopen, schnelle Schläge, Variationen der Klangfarbe, der Härte des Schlages. Eine Musik, die gleich in den Körper fährt, ihn packt und mitnimmt auf die schnelle Fahrt. Wir sollen tanzen. Ich mache ein paar Schulterschimmies, ein paar Hüftkreise. Eine Kleine, Schmächtige, 8 – 9 Jahre, ziert sich. Dann macht sie ein paar Stöße mit der Hüfte, eine Bauchrolle. Unter ihrem dünnen Kleidchen verraten selbst diese kleinen Bewegungen ihr großes Talent. Sie hat es einfach im Blut. Die lachenden Kinder, die Trommel - die Gasse ist in der einsetzenden Dämmerung plötzlich wie verzaubert! Da wird das Spektakel jäh unterbrochen. Eine Tür öffnet sich und eine Frau schüttet einen Eimer Putzwasser auf die Straße, mitten hinein in die Gruppe der tanzenden Kinder. Schreiend stieben sie auseinander.
Der Wind lässt nicht nur uns frieren. Fatima, die an der zugigen Rezeption des Hammam sitzt, trägt ihren dicken Wintermantel. Wir wollen hier endlich das Bad nehmen, das wir uns vom Atlantik versprochen hatten, den Sand loswerden, der uns nachmittags zugeweht hat, der in feinen Schichten unsere Haut bedeckt, das Haar durchzieht. Das Hammam, welch eine Wohltat! Die Kacheln, grün, blau und weiß, die wabernden Dampfschwaden, Unschärfe, eine Kerze, der Pfefferminztee, schrubben und schöpfen, einseifen und hinwegschwemmen, Seligkeitsgrad. Alhamdulilah! Fatima beginnt ein Lied zu singen, das von trauriger Liebe erzählt. Das dunkle Timbre ihrer Stimme hallt durch die schummrigen Räume, webt einen Zauber in die aufgeweichte Existenz. Und plötzlich ist auch hier Trommelmusik. Kraftvoll schlägt ein Mädchen auf die Holzbank, und Fatima beginnt ihren Körper zu wiegen. Kleine Schritte, Schimmies schlagen Wellen, zittern durch den Körper. Lachen.
Essaouira ist mehr als alle anderen Städte Marokkos eine Stadt der Katzen. Anderswo riecht es nach Pferden, nach Eseln und überall nach Holzfeuer und verbrennendem Fleisch. Essaouira stinkt nach Katze. Beißend, stechend, wenn man frühmorgens durch die Gassen streicht. Da gehören die Wege noch nicht den Menschen, da haben die Katzen sie noch in ihrem Besitz. Da schleichen sie um Haufen von Innereien und Fischköpfen, ziehen Stücke aus Abfallhaufen, die jemand unter einen Torbogen, in eine Straßenecke gekippt hat. Nachmittags dösen sie in der Sonne, manchmal drei vier vor einer Haustür: die zottelige mit den blauen Augen, die winzig kleine, die einäugige, manche erkennt man wieder. Unmöglich alle, es sind viel zu viele. Mager, mit langen Beinen und dem kleinen schmalen Kopf haben sie große Ähnlichkeit mit ihren nubischen Verwandten, deren Abbildungen die Pharaonengräber schmückten.
Abends, wenn das Leben in den Souks am lebhaftesten ist, hocken sie geduldig und fast unsichtbar neben und unter den Ständen der Hühner- und Kaninchenschlächter, bei den Schafmetzgern, neben den zur Demonstration der Frische ausgestellten Ziegenköpfen und Hammelhörnern, in Erwartung, dass etwas abfallen werde für sie, das sie unter den Tisch ziehen, das sie in eine Ecke zerren könnten.
Und später dann, nachts, sind sie die einzigen Bewohner der Straßen. Wenn es durch die Gassen pfeift, und die Menschen fröstelnd Schutz in den Häusern suchen, der Feuchte des Meeres und der schneidenden Kälte zu entkommen, dann trägt der Wind ihr Geschrei durch die Nacht, mischt es mit dem der Möwen. Ihre Paarungslaute - ein Klagen, das bricht von Verlorenheit. Einsam und schwarz. Nur der Ruf des Muezzin hebt sich darüber hinaus. Und wenn auch er verstummt, bleibt allein der Wind. Schlägt Leinen und lose Enden gegeneinander, trommelt sein Lied.
© Birgit Bodden